A. Rechtsumfeld – Beendigung von Arbeitsverhältnissen durch Aufhebungsvertrag
Der Aufhebungsvertrag stellt ein zentrales und bei richtiger Gestaltung sicheres Instrument dar, um Arbeits- oder sonstige (freie) Dienstverhältnisse einvernehmlich zu beenden. Mit dem Aufhebungsvertrag können Arbeit-/Dienstgeber und Arbeit-/Dienstnehmer ihre Vertrags- und Rechtsbeziehungen umfassend und abschließend regeln (weiterführend Holthausen, in: Minn/Stück/Laber, Beck-Personallexikon, Edition 27, Aufhebungsvertrag). Bildlich gesprochen können sie einen endgültigen Schlussstrich zwischen sich ziehen.
Auch wenn die Parteien im Zuge ihrer Trennungsverhandlungen eine weitgehende Abschluss-, Vertrags- und Gestaltungsfreiheit besitzen, sind die Vorgaben der §§ 305 ff. BGB (AGB-Kontrolle) ebenso wie andere von der Rechtsprechung gezogene Grenzen zu beachten. Die Grundlagen-Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 07.02.2019 – 6 AZR 75/18 beschreibt das maßgebliche Rechtsumfeld und normiert Anforderungen bezüglich des Abschlusses von Aufhebungsverträgen, die für ihre rechtliche Wirksamkeit und Verbindlichkeit maßgeblich sind. Neu ist die bisher weitgehend unbekannte bzw. nur am Rande wahrgenommene Rechtsfigur des „Gebots fairen Verhandelns“. Diese richterliche Rechtsfortbildung bzw. -figur wird in der Zukunft voraussichtlich erheblich an Bedeutung gewinnen. Sie ist deshalb sowohl bei der Gestaltung als auch dem Abschluss von Aufhebungs- bzw. Auflösungsverträgen zwingend zu beachten, will man die Wirksamkeit des Vertragsschlusses nicht ernsthaft gefährden.
B. Handlungsempfehlung
Die (Un-)Wirksamkeit arbeitsrechtlicher Aufhebungsverträge muss auf der Grundlage der nachstehend beschriebenen Leitentscheidung des Sechsten Senats – 6 AZR 75/18 – in der Beratungspraxis nunmehr immer zwingend unter einem weiteren Gesichtspunkt geprüft werden. Zur Prüfung der ex-tunc wirkenden Anfechtung wegen Inhalts- oder Erklärungsirrtums, Täuschung oder Drohung (§§ 119 Abs. 1 1. und 2. Variante, 123, 142 Abs. 1 BGB) tritt zunächst die Erkenntnis, dass der Aufhebungsvertrag auch bei Abschluss in den Wohnräumen des Arbeitnehmers kein Haustürwiderrufsgeschäft ist, die Verbraucherschutzvorschriften keine Anwendung auf ihn finden und deshalb ein Widerrufsrecht des Arbeitnehmers nach den §§ 312 ff. BGB nicht gegeben ist. Zu prüfen ist nunmehr ergänzend aber ein Schadensersatzanspruch des Arbeitnehmers nach § 280 Abs. 1 Satz 1 BGB wegen der schuldhaften Verletzung des Gebots fairen Verhandelns als vertraglicher Nebenpflicht aus dem Arbeitsvertrag (§§ 241 Satz 2 BGB, 242 BGB) durch den Arbeitgeber. Dabei ist ein entsprechender Schadensersatzanspruch gemäß § 249 BGB auf Naturalrestitution, das heißt die Wiederherstellung des status quo ante und mithin den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses gerichtet. Aus Sicht des gut beratenen Arbeitgebers gilt es bei Abschluss eines Aufhebungsvertrages insbesondere folgende Punkte zu beachten:
- Die Vertragsverhandlungen sind an hierfür zu erwartenden („nicht ungewöhnlichen“) Orten (Arbeitsort, Personalabteilung, Anwaltskanzlei, etc., nicht auf Betriebsfeiern, nicht in der Kantine, etc.) zu führen.
- Die Vertragsverhandlungen sind zu „üblichen Zeiten“ (nicht sonntags, nicht in der Nacht, nicht Heilig Abend oder Sylvester [?]) zu führen.
- Es darf keine Verhandlungssituation herbeigeführt oder ausgenutzt werden, die ausgewogene und gleichberechtigte (= faire) Verhandlungen erschwert oder unmöglich macht (kurz: keine „dirty tricks“ auf Seiten des Arbeitgebers).
- Relevante Informationen sind zu erteilen, Rechtsbeistand und Beratungsmöglichkeiten sind zu gewähren und dem Arbeitnehmer ist ausreichende Überlegungszeit einzuräumen.
- Jede Form der Überrumpelung des Arbeitnehmers (z.B. Täuschung über den Inhalt eines zu führenden Personalgesprächs) ist zu vermeiden. Das heißt, dem Arbeitnehmer muss eine wohlüberlegte, rechtlich, sachlich und wirtschaftlich fundierte Entscheidung ermöglicht werden.
- Es dürfen keine psychischen Drucksituationen geschaffen werden, die die Entscheidungsfreiheit des Arbeitnehmers erheblich einschränken oder unmöglich machen (z.B. unterschwellige Drohung/Nötigung unterhalb der zur Anfechtung berechtigenden Drohung, erheblicher zeitlicher Entscheidungsdruck oder sonstiger ungerechtfertigter Entscheidungszwang (= Übereilungsschutz).
- Es dürfen keine besonders unangenehmen Rahmenbedingungen für die Verhandlungen geschaffen werden, die den Arbeitnehmer erheblich ablenken oder gar seinen Fluchtinstinkt wecken. Denkbar sind mit Blick auf die Praxis „harte Personalgespräche“, das In-Aussicht-Stellen (unberechtigter) fristloser verhaltensbedingter Kündigungen, die Ankündigung „strafrechtlicher Konsequenzen ins Blaue hinein“, „Verhör-Situationen“, eine zahlenmäßige und fachliche deutliche Überlegenheit des Arbeitgebers (= strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers in Verhandlungen).
- Objektiv erkennbare körperliche Schwächen (Krankheiten und Behinderungen, die die freie Entscheidung beeinträchtigen) und/oder Defizite und/oder mangelnde Sprachkenntnisse dürfen nicht zum Nachteil des Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber ausgenutzt werden.
C. Gerichtliche Entscheidung
BAG (Sechster Senat), Urteil vom 07.02.2019 – 6 AZR 75/18
vorgehend:
LAG Niedersachsen 07.11.2017 – 10 Sa 1159/16
ArbG Celle 20.09.2016 – 1 Ca 77/16
D. Leit- und Orientierungssätze
- Eine Arbeitnehmerin kann einen Vertrag, durch den das Arbeitsverhältnis beendet wird (Aufhebungsvertrag), auch dann nicht widerrufen, wenn er in ihrer Privatwohnung abgeschlossen wurde (Pressemitteilung BAG Nr. 6/19).
- Die Einwilligung zum Abschluss eines arbeitsrechtlichen Aufhebungsvertrags kann nicht gemäß § 355 BGB widerrufen werden (Leitsatz 1.).
- Ein Aufhebungsvertrag ist jedoch unwirksam, wenn er unter Missachtung des Gebots fairen Verhandelns zustande gekommen ist (Leitsatz 2.).
- Bei dem Gebot fairen Verhandelns handelt es sich im Zusammenhang mit der Verhandlung eines arbeitsrechtlichen Aufhebungsvertrags um eine durch die Aufnahme von Vertragsverhandlungen begründete Nebenpflicht im Sinne des § 311 Abs. 2 Nr. 1 BGB i.V. mit § 241 Abs. 2 BGB (Orientierungssatz 1.).
- Eine Verhandlungssituation ist als unfair zu bewerten, wenn eine psychische Drucksituation geschaffen oder ausgenutzt wird, die eine freie und überlegte Entscheidung des Vertragspartners erheblich erschwert oder sogar unmöglich macht. Dies kann durch die Schaffung besonders unangenehmer Rahmenbedingungen geschehen. Denkbar ist auch die Ausnutzung einer objektiv erkennbaren körperlichen oder psychischen Schwäche oder unzureichender Sprachkenntnisse. Letztlich ist die konkrete Situation im jeweiligen Einzelfall am Maßstab des § 241 Abs. 2 BGB zu bewerten und von einer bloßen Vertragsreue abzugrenzen (Orientierungssatz 2.).
E. Sachverhalt
Der Sachverhalt der Entscheidung ist mit Blick auf die Pressemitteilung des Sechsten Senats wie folgt schnell zusammengefasst: Die Klägerin war bei der Beklagten als Reinigungskraft beschäftigt. Sie schloss in ihrer Wohnung mit dem Lebensgefährten der Beklagten einen Aufhebungsvertrag, der die sofortige Beendigung des Arbeitsverhältnisses ohne Zahlung einer Abfindung vorsieht. Anlass und Ablauf der Vertragsverhandlungen sind umstritten. Nach Darstellung der Klägerin war sie am Tag des Vertragsschlusses erkrankt. Sie hat den Aufhebungsvertrag wegen Irrtums, arglistiger Täuschung und widerrechtlicher Drohung angefochten und hilfsweise widerrufen. Mit ihrer Klage wendet sie sich u.a. gegen die Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses durch den Aufhebungsvertrag. Das LAG hat die Klage abgewiesen. Der Sechste Senat des BAG hat dieses Urteil auf die Revision der Klägerin hin aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurückverwiesen.
F. Entscheidungsgründe
I. Keine Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB
Formularmäßige Abreden, die Art und Umfang der vertraglichen Hauptleistung und der hierfür zu zahlenden Vergütung unmittelbar bestimmen, sind aus Gründen der Vertragsfreiheit gemäß § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB regelmäßig von der gesetzlichen Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB ausgenommen. Darum unterliegt in einem Aufhebungsvertrag die Beendigungsvereinbarung als solche ebenso wenig einer Angemessenheitskontrolle (BAG 08.05.2008 – 6 AZR 517/07, Rn. 22) wie eine als Gegenleistung für die Zustimmung des Arbeitnehmers zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses etwaig gezahlte Abfindung (BAG 12.03.2015 – 6 AZR 82/14, Rn. 23 mwN; BAG 07.02.2019 – 6 AZR 75/18, Rn. 12).
II. Kein Widerrufsrecht nach den §§ 312 Abs. 1, 312g Abs. 1, 355 BGB
Einem Arbeitnehmer steht im Falle des Abschlusses eines Aufhebungsvertrages kein Widerrufsrecht gemäß § 355 i.V. mit § 312g Abs. 1, § 312b BGB zu. Der Anwendungsbereich für diese Vorschriften ist gemäß § 312 Abs. 1 BGB in diesem Fall nicht eröffnet. Ein Aufhebungsvertrag kann darum vom Arbeitnehmer auch dann nicht widerrufen werden, wenn er in der Wohnung des Arbeitnehmers geschlossen worden ist. (…) Für die Annahme eines Widerrufsrechts des Arbeitnehmers bei Abschluss eines arbeitsrechtlichen Aufhebungsvertrags in seiner Wohnung spricht zwar, dass es sich bei einem arbeitsrechtlichen Aufhebungsvertrag um einen Verbrauchervertrag i.S. des § 310 Abs. 3 BGB handelt (BAG 24.02.2016 – 5 AZR 258/14, Rn. 22 mwN) und der Vertrag außerhalb der Geschäftsräume des Unternehmers, das heißt des Arbeitgebers, geschlossen wurde. Die Auslegung des § 312 Abs. 1 BGB unter Berücksichtigung seines systematischen Zusammenhangs und des gesetzgeberischen Willens ergibt jedoch, dass die Norm den Anwendungsbereich des zweiten Kapitels und damit der §§ 312b, 312g BGB nicht eröffnet. Folglich kann ein Arbeitnehmer sein Einverständnis mit einem nach dem 12.06.2014 geschlossenen Aufhebungsvertrag unabhängig vom Ort des Vertragsschlusses nicht gemäß § 312 Abs. 1, §§ 312b, 312g Abs. 1, § 355 BGB widerrufen (…). Im Ergebnis besteht daher keine Veranlassung, die zu § 312 Abs. 1 BGB a.F. ergangene Rechtsprechung, welche arbeitsrechtliche Beendigungsvereinbarungen nicht als Haustürgeschäft ansah (BAG 18.08.2005 – 8 AZR 523/04; BAG 22.04.2004 – 2 AZR 281/03; BAG 27.11.2003 – 2 AZR 135/03), aufzugeben. Maßgebend für die Gesetzesauslegung ist der in der Norm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, wie er sich aus dem Wortlaut der Vorschrift und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den die Regelung hineingestellt ist. Der Erfassung des objektiven Willens des Gesetzgebers dienen die anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung aus dem Wortlaut der Norm, der Systematik, ihrem Sinn und Zweck sowie aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte. Unter diesen Methoden hat keine einen unbedingten Vorrang. Welche Regelungskonzeption der Gesetzgeber mit dem von ihm gefundenen Wortlaut tatsächlich verfolgt, ergibt sich u.U. erst aus den anderen Auslegungsgesichtspunkten. Wird daraus der Wille des Gesetzgebers klar erkennbar, ist dieser zu achten (vgl. BVerfG 06.06.2018 – 1 BvL 7/14, Rn. 74 f.; BVerfG 19.03.2013 – 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11, Rn. 66; BAG 25.05.2016 – 5 AZR 135/16, Rn. 28).
Der Wortlaut des § 312 Abs. 1 BGB lässt nicht zweifelsfrei erkennen, ob arbeitsrechtliche Aufhebungsverträge nach dem Willen des Gesetzgebers zu den Verbraucherverträgen zählen, die von dieser Vorschrift erfasst werden sollen. Dafür ist eine „Leistung“ des Unternehmers erforderlich, die zudem „entgeltlich“ sein muss. Ob das Angebot bzw. der Abschluss eines Aufhebungsvertrags eine Leistung des Arbeitgebers ist, bedarf dabei ebenso der Auslegung wie die Frage seiner Entgeltlichkeit. Letzteres folgt schon daraus, dass arbeitsrechtliche Aufhebungsverträge in der Praxis des Arbeitslebens sowohl mit als auch ohne Abfindungsvereinbarung geschlossen werden. Dabei wäre zu beachten, dass bei Einordnung einer Abfindungszahlung als entgeltliche Leistung des Arbeitgebers der Schutz der §§ 312 ff. BGB auf arbeitsrechtliche Aufhebungsverträge mit Abfindungsanspruch zur Anwendung käme. Dagegen könnte eine Aufhebungsvereinbarung, die keine Zahlung einer Abfindung vorsieht, nicht widerrufen werden, wenn sie als kompensationslos anzusehen wäre. Der sich aufdrängende Wertungswiderspruch zwänge zu einer weiten, dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG Rechnung tragenden Auslegung der „Entgeltlichkeit“ der Leistung, die den Aufhebungsvertrag als Leistung des Arbeitgebers versteht, die durch den Verzicht des Arbeitnehmers auf zukünftige Verdienstmöglichkeiten „entgolten“ wird (…). Der Wortsinn des Begriffes der „entgeltlichen Leistung“ ist damit nicht eindeutig. Der systematische Zusammenhang des § 312 Abs. 1 BGB mit den übrigen Vorschriften der Kapitel 1 und 2 des Untertitels 2 spricht jedoch entscheidend dafür, dass arbeitsrechtliche Aufhebungsverträge nicht dem Anwendungsbereich dieser Regelungen unterfallen sollen. (…) Mangels Anwendbarkeit der §§ 312b, 312g BGB kommt es daher nicht darauf an, dass ein Arbeitnehmer außerhalb der Geschäftsräume des Arbeitgebers, insbesondere in seiner Wohnung, grundsätzlich nicht damit rechnen muss, plötzlich mit der Aufforderung zur Unterzeichnung eines Aufhebungsvertrags konfrontiert zu werden und damit die Gefahr der Überraschung und einer psychischen Drucksituation besteht (…, BAG 07.02.2019 – 6 AZR 75/18, Rn. 13 ff.).
III. Gebot fairen Verhandelns als vertragliche Nebenpflicht
Nach der Rechtsprechung des BAG kann der Gefahr einer möglichen Überrumpelung des Arbeitnehmers bei Vertragsverhandlungen, z.B. weil diese zu ungewöhnlichen Zeiten oder an ungewöhnlichen Orten stattfinden, mit dem Gebot fairen Verhandelns begegnet werden (BAG 15.03.2005 – 9 AZR 502/03 mwN). Bei dem Gebot fairen Verhandelns handelt es sich im Zusammenhang mit der Verhandlung eines arbeitsrechtlichen Aufhebungsvertrags um eine durch die Aufnahme von Vertragsverhandlungen begründete Nebenpflicht i.S. des § 311 Abs. 2 Nr. 1 i.V. mit § 241 Abs. 2 BGB, weil der Aufhebungsvertrag ein eigenständiges Rechtsgeschäft ist (…). Bei der Bestimmung der Pflichten nach § 241 Abs. 2 BGB ist jedoch zu berücksichtigen, dass sich die Parteien eines Aufhebungsvertrags zum Zeitpunkt der Vertragsverhandlungen bereits in einem Schuldverhältnis, nämlich ihrem Arbeitsverhältnis, befinden (…). Die aus dem Arbeitsverhältnis stammenden Verpflichtungen zur wechselseitigen Rücksichtnahme gemäß § 241 Abs. 2 BGB strahlen auf die Verhandlungen bzgl. der Beendigung des Arbeitsverhältnisses aus (…). Das Gebot fairen Verhandelns schützt unterhalb der Schwelle der von §§ 105, 119 ff. BGB erfassten Willensmängel die Entscheidungsfreiheit bei Vertragsverhandlungen. Diese Abgrenzung des Sechsten Senats zur Nichtigkeit von Willenserklärungen und zur Anfechtung ist für die Praxis bedeutend, da der Anwendungsbereich des Gebots fairen Verhaltens weitergezogen wird (Stichwort: „unterhalb der Schwelle“). Nach § 241 Abs. 2 BGB kann das Schuldverhältnis nach seinem Inhalt jeden Teil zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichten. Der Inhalt der Rücksichtnahmepflichten kann nicht in einem abschließenden Katalog benannt werden, sondern ist anhand der Umstände des Einzelfalls zu bestimmen (vgl. BAG 24.10.2018 – 10 AZR 69/18, Rn. 24 ff.; BAG 27.06.2017 – 9 AZR 576/15, Rn. 16; BGH 14.03.2013 – III ZR 296/11, Rn. 25). Dies gilt auch bei Vertragsverhandlungen, bei denen die Parteien durchaus gegenläufige Interessen haben können. § 241 Abs. 2 BGB zwingt nicht zu einer Verleugnung der eigenen Interessen, sondern zu einer angemessenen Berücksichtigung der Interessen der Gegenseite. So obliegt dem Arbeitgeber beispielsweise zwar keine allgemeine Pflicht, die Vermögensinteressen des Arbeitnehmers wahrzunehmen. Nach § 241 Abs. 2 BGB kann der Arbeitgeber aber verpflichtet sein, von sich aus geeignete Hinweise zu geben bzw. entsprechende Aufklärung zu leisten (BAG 21.12.2017 – 8 AZR 853/16, Rn. 32). Erteilt er Auskünfte, müssen diese richtig, eindeutig und vollständig sein (vgl. BAG 15.12.2016 – 6 AZR 578/15, Rn. 20). Bei Verhandlungen über den Abschluss eines Aufhebungsvertrags kann eine Seite gegen ihre Verpflichtungen aus § 241 Abs. 2 BGB verstoßen, wenn sie eine Verhandlungssituation herbeiführt oder ausnutzt, die eine unfaire Behandlung des Vertragspartners darstellt (…). § 241 Abs. 2 BGB schützt mit den „Interessen“ nach dem Willen des Gesetzgebers ausdrücklich auch die Entscheidungsfreiheit des anderen Vertragspartners (…). Die Bestimmung trägt so dem Gebot Rechnung, unzulässiger Fremdbestimmung bei der Willensbildung in der vorkonsensualen Phase wirksam zu begegnen (…). Das Gebot fairen Verhandelns wird missachtet, wenn die Entscheidungsfreiheit des Vertragspartners in zu missbilligender Weise beeinflusst wird (…). Es geht dabei nicht um ein Erfordernis der Schaffung einer für den Vertragspartner besonders angenehmen Verhandlungssituation, sondern um das Gebot eines Mindestmaßes an Fairness im Vorfeld des Vertragsschlusses (…). Eine rechtlich zu missbilligende Einschränkung der Entscheidungsfreiheit ist noch nicht gegeben, nur weil der eine Auflösungsvereinbarung anstrebende Arbeitgeber dem Arbeitnehmer weder eine Bedenkzeit noch ein Rücktritts- oder Widerrufsrecht einräumt (vgl. BAG 14.02.1996 – 2 AZR 234/95). Auch eine Ankündigung des Unterbreitens einer Aufhebungsvereinbarung ist nicht erforderlich (vgl. BAG 30.09.1993 – 2 AZR 268/93). Eine Verhandlungssituation ist vielmehr erst dann als unfair zu bewerten, wenn eine psychische Drucksituation geschaffen oder ausgenutzt wird, die eine freie und überlegte Entscheidung des Vertragspartners erheblich erschwert oder sogar unmöglich macht (…). Dies kann durch die Schaffung besonders unangenehmer Rahmenbedingungen, die erheblich ablenken oder sogar den Fluchtinstinkt wecken, geschehen (…). Denkbar ist auch die Ausnutzung einer objektiv erkennbaren körperlichen oder psychischen Schwäche oder unzureichender Sprachkenntnisse. Die Nutzung eines Überraschungsmoments kann ebenfalls die Entscheidungsfreiheit des Vertragspartners beeinträchtigen (Überrumpelung). Letztlich ist die konkrete Situation im jeweiligen Einzelfall am Maßstab des § 241 Abs. 2 BGB zu bewerten und von einer bloßen Vertragsreue abzugrenzen.
Zur Rechtsfolge bei einer Verletzung des Gebot fairen Verhandelns stellt der Sechste Senat fest: Liegt ein schuldhafter Verstoß gegen das Gebot fairen Verhandelns im Sinne einer Nebenpflichtverletzung gemäß § 241 Abs. 2 BGB vor, ist der Aufhebungsvertrag im Regelfall unwirksam. Die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen die nach § 311 Abs. 2 Nr. 1 i.V. mit § 241 Abs. 2 BGB geschuldeten Rücksichts- oder Aufklärungspflichten ergeben sich aus § 280 Abs. 1 i.V. mit §§ 249 bis 253 BGB. Der BGH geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass ein Vertragspartner, der durch ein Verhandlungsverschulden geschädigt ist, regelmäßig den Ersatz des negativen Interesses verlangen kann. Er ist also so zu stellen, wie er ohne das Zustandekommen des Vertrags stünde, was grundsätzlich zu einem Anspruch auf Befreiung von dem abgeschlossenen Vertrag und damit im Ergebnis dazu führt, dass der Vertrag gemäß § 249 Abs. 1 BGB rückgängig gemacht wird (vgl. BGH 04.12.2015 – V ZR 142/14, Rn. 18; BGH 11.02.1999 – IX ZR 352/97; BGH 14.01.1993 – IX ZR 206/91; zu Leistungsverweigerungsrechten vgl. BGH 28.04.2015 – XI ZR 378/13, Rn. 48). Dies gilt wegen des Erfordernisses eines Vermögensschadens allerdings nur bei wirtschaftlich nachteiligen Verträgen (vgl. BGH 28.06.2017 – IV ZR 440/14, Rn. 37). Hierfür genügt jeder wirtschaftliche Nachteil, der für den Gläubiger mit dem aufgrund der Pflichtverletzung eingegangenen Vertrag verbunden ist (BGH 13.12.2017 – IV ZR 353/15, Rn. 14). Hat der Arbeitgeber bei den Verhandlungen über den Abschluss eines Aufhebungsvertrags das Gebot fairen Verhandelns schuldhaft verletzt, bewirkt dies keinen Anspruch des Arbeitnehmers auf Neuabschluss des Arbeitsvertrags zu den bisherigen Konditionen (…). Vielmehr führt der Schadensersatzanspruch des Arbeitnehmers wegen einer Missachtung des Gebots fairen Verhandelns unmittelbar zu einem Entfall der Rechtswirkungen des Aufhebungsvertrags und damit zu einer Fortsetzung des ursprünglichen Arbeitsverhältnisses zu unveränderten Bedingungen (…).
Der Aufhebungsvertrag lässt den Arbeitsplatz und die damit verbundenen Verdienstmöglichkeiten entfallen. Im Regelfall bewirkt ein unfair ausgehandelter Aufhebungsvertrag für den Arbeitnehmer einen wirtschaftlichen Schaden. Vergleichbar der Vermutung aufklärungsgemäßen Verhaltens bei Verletzung von Hinweis- und Aufklärungspflichten (vgl. BAG 21.02.2017 – 3 AZR 542/15, Rn. 45) kann bezogen auf die Kausalität zwischen Verhandlungsverschulden und Schaden davon ausgegangen werden, dass ein Arbeitnehmer ohne die unfaire Behandlung seine Eigeninteressen in vernünftiger Weise gewahrt und den Aufhebungsvertrag nicht abgeschlossen hätte (vgl. BAG 17.10.2000 – 3 AZR 605/99).
Zur Beseitigung des Aufhebungsvertrags im Wege des Schadensersatzes bedarf es keines Neuabschlusses des Arbeitsvertrags (vgl. BAG 18.01.2000 – 9 AZR 932/98). Damit wird dem Zweck der Naturalrestitution Rechnung getragen (vgl. BGH 28.01.2014 – XI ZR 495/12, Rn. 13). Diese ist hier auf den Entfall der Rechtswirkung des Vertragsschlusses gerichtet. Der entgegenstehende Wille des schadensersatzpflichten Vertragspartners wird gebrochen. Folglich leuchtet es nicht ein, weshalb die Naturalrestitution ggf. erst durch Abgabe einer nach § 894 ZPO fingierten Willenserklärung erreicht werden sollte. Eine Vertragsaufhebung als Schadensersatz ist jedenfalls bei arbeitsrechtlichen Aufhebungsverträgen letztlich wirkungsgleich mit einer Anfechtung (in diesem Sinne bereits BGH 24.10.1996 – IX ZR 4/96). Dem steht keine Spezialität des Anfechtungsrechts entgegen. Anfechtungs- und Schadensersatzrecht sind strikt zu unterscheiden (vgl. BAG 24.02.2011 – 6 AZR 626/09, Rn. 53; BGH 18.09.2001 – X ZR 107/00). Gleiches gilt im Verhältnis zu gesetzlichen Widerrufsrechten. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass sich ein Schaden in einem formal gültigen Vertragsschluss realisieren und der Geschädigte unter Anwendung von §§ 280, 249 BGB die Lösung von dem Vertrag als Naturalrestitution verlangen kann (vgl. BT-Drucks. 14/6040, Seite 162; zum Ganzen BAG 07.02.2019 – 6 AZR 75/18, Rn. 31 ff.)
G. Fazit
Das vorbeschriebene Leiturteil stellt die Beratungspraxis mit Blick auf die geforderte Rechtssicherheit vor Herausforderungen. Sowohl Verhandlungen als auch der Abschluss von Aufhebungsverträgen wollen in Zukunft noch sorgfältiger strukturiert und (gerichtsverwertbar) dokumentiert werden. Das BAG schafft mit seiner Rechtsprechung zum „Gebot fairen Verhandelns“ unterhalb der gesetzlich vorgesehenen einseitigen Vertragsbeendigungsmöglichkeiten (wie etwa Anfechtung, Widerruf, Kündigung oder Rücktritt, hierzu Fischinger, NZA 2019, 729) über die §§ 241 Abs. 2, 242 BGB und hieraus abgeleitete vertragliche Nebenpflichten eine weitere, in ihren Fallgestaltungen und zeitlichen Grenzen der möglichen Geltendmachung nicht klar konturierte Rechtsfigur, um einen (unerwünschten, als negativ empfundenen) Aufhebungsvertrag juristisch zu Fall zu bringen (vgl. Spitz, Anm. zu 6 AZR 75/18, jurisPR-ITR 13/2019, Anm. 5.; zu verschiedenen Konstellationen unwirksamer Aufhebungsverträge Lingemann/Chakrabarti, NJW 2019, 2445). In Ansehung der wechselseitig gegenläufigen Interessen der Arbeitsvertragsparteien ist der Begriff des „Fairnessgebots“ in der Praxis schwer zu handhaben. Er weist subjektive Bewertungsspielräume auf und führt mit Blick auf seine nur beispielhaft beschriebenen Tatbestandsmerkmale und unzureichend festgelegte Reichweite (hierzu Hördt, ArbRAktuell 2019, 289) erhebliche Rechtsunsicherheiten auf (krit. Holler, NJW 2019, 2206). Kurz gefasst steigen durch die Rechtsprechung zum Gebot fairen Verhandelns die Risiken auf Arbeitgeberseite bei der Gestaltung und dem Abschluss eines Aufhebungsvertrages an, was in der Beratungspraxis durch vorausschauende Gestaltung und Planung sowie eine aussagekräftige, nachvollziehbare Dokumentation der Abläufe (Stichwort: [noch ungeklärte, ggf. wechselseitig gestufte] Darlegungs- und Beweislast) abzufedern ist.
Kategorie: Aufhebungsvertrag, Abwicklungsvertrag, einvernehmliche Beendigung von Arbeitsverhältnissen, Trennungsberatung, Abschluss- und Vertragsfreiheit, arbeitsvertragliche Nebenpflicht, AGB-Kontrolle, Anfechtung wegen Irrtums, Anfechtung wegen Drohung, Drucksituation, Ausnutzen krankheitsbedingter Schwäche, Widerrufsrecht, Haustürgeschäft, Gebot fairen Verhandelns, Treu und Glauben, Schadensersatzanspruch, Fortbestand des Arbeitsverhältnisses, arbeitsvertragliche Nebenpflicht, Überrumpelungsschutz, Vertragsreue
Autor: Dr. Joachim Holthausen
Veröffentlicht: 06.03.2020
Letzte Änderung: 06.03.2020