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A. Gerichtliche Entscheidung

BAG (Zweiter Senat), Urteil vom 31.01.2019 – 2 AZR 426/18

vorgehend:

LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 06.06.2018 – 21 Sa 48/17

ArbG Stuttgart, Urteil vom 31.07.2017 – 24 Ca 2/17

B. Leit-/Orientierungssätze

Leitsätze:

1. Der dringende Verdacht einer Pflichtverletzung kann eine ordentliche Kündigung aus Gründen in der Person des Arbeitnehmers i.S. von § 1 II KSchG sozial rechtfertigen.

2. Die Einsichtnahme in auf einem Dienstrechner des Arbeitnehmers gespeicherte und nicht als “privat“ gekennzeichnete Dateien setzt nicht zwingend einen durch Tatsachen begründeten Verdacht einer Pflichtverletzung voraus.

Orientierungssätze:

1. Der Verdacht einer Pflichtverletzung stellt gegenüber dem verhaltensbezogenen Vorwurf, der Arbeitnehmer habe die “Tat“ begangen, einen eigenständigen Kündigungsgrund dar. Der Verdacht kann eine ordentliche Kündigung aus Gründen in der Person des Arbeitnehmers i.S. von § 1 II KSchG sozial rechtfertigen. Der durch den Verdacht bewirkte Verlust der vertragsnotwendigen Vertrauenswürdigkeit kann einen Eignungsmangel begründen.

2. Eine ordentliche Verdachtskündigung ist nur dann durch den bloßen Verdacht pflichtwidrigen Verhaltens i.S. von § 1 II KSchG aus Gründen in der Person des Arbeitnehmers „bedingt", wenn das Verhalten, dessen der Arbeitnehmer verdächtig ist, – wäre es erwiesen – sogar eine sofortige Beendigung des Arbeitsverhältnisses gerechtfertigt hätte.

3. Anders als für eine außerordentliche Verdachtskündigung besteht keine starre Frist, innerhalb derer der Arbeitgeber das Recht zur ordentlichen Verdachtskündigung ausüben müsste. Allerdings kann ein längeres Zuwarten zu der Annahme berechtigen, die Kündigung sei nicht i.S. von § 1 II KSchG durch den Verlust des vertragsnotwendigen Vertrauens “bedingt“. Daneben kommt eine Verwirkung des Kündigungsrechts nach § 242 BGB in Betracht.

4. Weniger intensiv in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers eingreifende Datenerhebungen, -verarbeitungen und -nutzungen können nach § 32 I 1 BDSG aF ohne Vorliegen eines durch Tatsachen begründeten Anfangsverdachts – zumal einer Straftat oder anderen schweren Pflichtverletzung – zulässig sein. So kann es liegen, wenn der Arbeitgeber aus einem nicht willkürlichen Anlass prüfen möchte, ob der Arbeitnehmer seine vertraglichen Pflichten vorsätzlich verletzt hat, und er – der Arbeitgeber – dazu auf einem Dienstrechner gespeicherte Dateien einsieht, die nicht als “privat“ gekennzeichnet sind. Das gilt jedenfalls dann, wenn die Maßnahme offen erfolgt und der Arbeitnehmer zuvor darauf hingewiesen worden ist, welche Gründe eine Einsichtnahme in – vermeintlich – dienstliche Dateien erfordern können und dass er Dateien durch eine Kennzeichnung als “privat“ von einer Einsichtnahme ohne “qualifizierten“ Anlass ausschließen kann.

C. Sachverhalt

Die Beklagte produziert Kraftfahrzeuge. Der als schwerbehinderter Mensch anerkannte und damit sonderkündigungsgeschützte Kläger (§§ 168 ff. SGB IX) war seit 1996 bei der Beklagten beschäftigt.

Bei einer in einem anderen Zusammenhang stehenden vorher angekündigten Untersuchung des Dienstlaptops des Klägers (Vorwurf: Inhalte eines Audit-Berichts unerlaubt an Dritte weitergegeben zu haben) entdeckte die Beklagte in einer nicht als “privat“ gekennzeichneten Datei Angaben, die den Verdacht eines wiederholten Tank-/Spesenbetruges durch den Kläger begründeten. Mehrere Kündigungen im Jahr 2013 wurden vom Zweiten Senat des BAG am 22.09.2016 –  2 AZR 700/15 – mangels Zustimmung des Integrationsamtes und wegen unzureichender Betriebsratsanhörung für unwirksam befunden. Daraufhin kündigte die Beklagte dem Kläger nach erfolgter Zustimmung des Integrationsamtes und erneuter Anhörung des Betriebsrats ordentlich, fristgerecht erneut am 15.12.2017 zum 30.06.2017.

Die Kündigungsschutzklage hatte vor dem LAG Baden-Württemberg keinen Erfolg. Auch beim BAG unterlag der Kläger, seine Revision wies der Zweite Senat zurück.

D. Entscheidungsgründe

I. Verdachtskündigung = personenbedingte Kündigung

Der Verdacht einer Pflichtverletzung stellt gegenüber dem verhaltensbezogenen Vorwurf, der Arbeitnehmer habe die Pflichtverletzung tatsächlich begangen, einen eigenständigen Kündigungsgrund dar, vgl. BAG 18.06.2015 – 2 AZR 256/14. Der Verdacht kann eine ordentliche Kündigung aus Gründen in der Person des Arbeitnehmers bedingen.

Eine Verdachtskündigung ist stets eine personenbedingte Kündigung. Sie wird nicht deshalb zu einer Kündigung aus Gründen im Verhalten des Arbeitnehmers, weil dieser die entscheidungserheblichen Verdachtsmomente selbst gesetzt hat. Ein Arbeitnehmer begeht nicht dadurch eine eigenständige Pflichtverletzung, dass er sich durch ein für sich genommen pflichtwidriges Verhalten einer weiter gehenden, schwerer wiegenden Pflichtverletzung (nur) verdächtig macht.

II. Arbeitsverhältnis, Dauerschuldverhältnis, Vertrauen der Vertragsparteien

Jedes Arbeitsverhältnis setzt als personenbezogenes Dauerschuldverhältnis ein gewisses gegenseitiges Vertrauen der Vertragspartner voraus. Ein schwerwiegender Verdacht einer Pflichtverletzung kann zum Verlust der vertragsnotwendigen Vertrauenswürdigkeit des Arbeitnehmers und damit zu einem Eignungsmangel führen, der einem verständig und gerecht abwägenden Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar macht. Der durch den Verdacht bedingte Eignungsmangel stellt einen Kündigungsgrund in der Person des Arbeitnehmers dar, auch wenn die den Verdacht und den daraus folgenden Vertrauensverlust begründenden Umstände nicht unmittelbar mit seiner Person zusammenhängen müssen.

Ein gewisses Vertrauen ist für die Durchführung jedes Arbeitsverhältnisses unerlässlich. Der Arbeitgeber muss sich darauf verlassen können, dass seine Mitarbeiter die Integrität seiner Rechtsgüter, die von anderen Arbeitnehmern oder ggf. von Dritten nicht vorsätzlich verletzen. Ein darüber hinausgehendes Maß an Vertrauen kann beispielsweise erforderlich sein, wenn ein Arbeitnehmer Kenntnis von Betriebsgeheimnissen erlangt, gefährliche Maschinen bedient, die auch Dritte gefährden können, oder Zugang zu Bargeldbeständen oder anderen Wertgegenständen hat. Eine solche besondere Vertrauensstellung ist aber keine zwingende Voraussetzung für die Wirksamkeit einer Verdachtskündigung. Vielmehr ist sie bei der Prüfung, ob dem Arbeitgeber im jeweiligen Einzelfall die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zuzumuten ist, in die Interessenabwägung einzustellen.

III. Strenge Anforderungen an Verdachtskündigung

Angesichts der jeweils aus Art. 12 I GG folgenden, gegenläufigen Grundrechtspositionen der Arbeitsvertragsparteien bedarf die Verdachtskündigung der besonderen Legitimation. Die verfassungskonforme Auslegung von § 1 II KSchG ergibt, dass eine Verdachtskündigung auch als ordentliche Kündigung sozial nur gerechtfertigt ist, wenn Tatsachen vorliegen, die zugleich eine außerordentliche, fristlose Kündigung gerechtfertigt hätten (dringender Tatverdacht).

Der Verdacht muss auf konkreten, vom Kündigenden darzulegenden und ggf. – mit dem “vollen“ Maß des § 286 I ZPO – zu beweisenden Tatsachen beruhen. Er muss dringend sein. Es muss eine große Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass er zutrifft. Die Umstände, die ihn begründen, dürfen nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht ebenso gut durch ein Geschehen zu erklären sein, das eine Kündigung nicht zu rechtfertigen vermöchte. Bloße, auf mehr oder weniger haltbare Vermutungen gestützte Verdächtigungen reichen nicht aus.

Die (auch) für eine ordentliche Kündigung erforderliche Annahme, das für eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses objektiv unabdingbare Vertrauen sei bereits aufgrund des Verdachts eines erheblichen Fehlverhaltens des Arbeitnehmers zerstört, ist solange nicht gerechtfertigt, wie der Arbeitgeber die zumutbaren Mittel zur Aufklärung des Sachverhalts nicht ergriffen hat. Dazu gehört insbesondere, dem Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme zu den Verdachtsmomenten zu geben, um dessen Einlassungen bei der Entscheidungsfindung berücksichtigen zu können (Anhörung). Versäumt der Arbeitgeber dies, kann er sich im Prozess nicht auf den Verdacht eines pflichtwidrigen Verhaltens des Arbeitnehmers berufen. Die hierauf gestützte Kündigung ist unwirksam.

IV. Keine Zwei-Wochen-Frist bei ordentlicher Verdachtskündigung

Anders als bei der außerordentlichen Verdachtskündigung gilt bei der ordentlichen Verdachtskündigung nicht – auch nicht an analog – die Zwei-Wochen-Frist des § 626 II BGB. Jedoch muss sich der Arbeitgeber zeitnah entscheiden. Es ist ihm verwehrt, einen Kündigungsgrund auf „Vorrat zu halten“ und „ihn bei passender Gelegenheit bzw. bei Bedarf zu verwerten“. Nach Auffassung des Zweiten Senats genügt es für den Verlust des Kündigungsrechts, wenn der Arbeitgeber Kenntnis von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen hat, er für einen mit der Annahme eines irreparablen Vertrauensverlusts unvereinbar lang erscheinenden Zeitraum untätig bleibt und keine besonderen Umstände ersichtlich sind, die das lange Zuwarten zwischen der Kenntnis vom Kündigungsgrund und dem Kündigungsausspruch erklärlich machen. Hingegen kann die Beurteilung sich ändern, wenn der Arbeitgeber bei Kenntnis neuer, weiterer Umstände den Sachverhalt neu bewerten und sich erst dann zur Kündigung entschließen darf.

V. Einhaltung Datenschutz, kein Verwertungsverbot eines Zufallfundes

Datenschutz ist kein Tatenschutz. Diesen Grundsatz bekräftigt der Zweite Senat und stellt fest: Nach der inzwischen gefestigten Senatsrechtsprechung greift in einem Kündigungsrechtsstreit jedenfalls dann kein Verwertungsverbot zugunsten des Arbeitnehmers ein, wenn der Arbeitgeber die betreffende Erkenntnis oder das fragliche Beweismittel im Einklang mit den einschlägigen datenschutzrechtlichen Vorschriften erlangt und weiterverwandt hat.

§ 32 BDSG aF entfaltet keine Sperrwirkung für Pflichtverletzungen in dem Sinn, dass eine anlassbezogene Datenerhebung durch den Arbeitgeber ausschließlich zur Aufdeckung von Straftaten zulässig wäre und sie nicht nach § 32 I 1 BDSG aF zulässig sein könnte. Allerdings muss die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung der personenbezogenen Daten auch nach § 32 I 1 BDSG aF “erforderlich“ sein. Es hat eine “volle“ Verhältnismäßigkeitsprüfung zu erfolgen. Die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung der personenbezogenen Daten müssen geeignet, erforderlich und unter Berücksichtigung der gewährleisteten Freiheitsrechte angemessen sein, um den erstrebten Zweck zu erreichen. Es dürfen keine anderen, zur Zielerreichung gleich wirksamen und das Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmer weniger einschränkenden Mittel zur Verfügung stehen. Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (Angemessenheit) ist gewahrt, wenn die Schwere des Eingriffs bei einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe steht. Die Datenerhebung, -verarbeitung oder -nutzung darf keine übermäßige Belastung für den Arbeitnehmer darstellen und muss der Bedeutung des Informationsinteresses des Arbeitgebers entsprechen. Dies beurteilt sich ggf. für jedes personenbezogene Datum gesondert.

VI. Keine Verwirkung des Kündigungsrechts (§ 242 BGB, Zeit- und Umstandsmoment)

Der Zweite Senat kommt im Streitfall mit Blick auf das stringente Handeln der Beklagten zu dem Ergebnis, das Recht zu kündigen, habe die Beklagte auch nicht verwirkt. Sie habe schon vor der Senatsentscheidung vom 22.09.2016 im Vorverfahren die weitere Kündigung vorbereitet und diese unverzüglich, ohne schuldhaftes Zögern umgesetzt. Infolgedessen habe der Kläger zu keinem Zeitpunkt davon ausgehen können, dass die Beklagte “nach Abstellen der formalen Mängel“ erneut kündigen werde. Der Kläger konnte insoweit kein schützenswertes vertrauen für sich in Anspruch nehmen.

E. Fazit und Beratungsempfehlung

Der Senat grenzt bei der ordentlichen Verdachtskündigung zwischen personenbedingter sowie verhaltensbedingter Kündigung ab und stuft die ordentliche Verdachtskündigung als personenbedingte Kündigung ein, was dogmatisch überzeugt.

Die ordentliche Verdachtskündigung stellt hohe Anforderungen an den dringenden Tatverdacht. Ein Kündigungsgrund im Sinne des § 1 II KSchG (“bedingt“), erfordert einen Verdacht mit der Schwere des § 626 I BGB (“wichtiger Grund“). Insoweit darf der Arbeitgeber nicht der Fehlvorstellung unterliegen, bei der ordentlichen Verdachtskündigung handele es sich um eine „Verdachtskündigung light“.

Bei der einzuhaltenden Frist gilt zwar nicht § 626 II BGB (auch nicht analog). Entsprechend den Umständen des Einzelfalls muss der Arbeitgeber aber gleichwohl zeitnah und zügig Handeln, um sein Kündigungsrecht nicht zu verlieren. An dieser Stelle ist Vorsicht und wohlüberlegtes, strukturiertes Vorgehen geboten. Hier scheitern in der Praxis viele Verdachtskündigungen.

Die datenschutzrechtlichen Vorgaben sind streng. Sie stehen mit der DSGVO und dem BDSG im Einklang und schreiben die Rechtsprechung des BAG fort. Eine wirksame Kündigung setzt in diesem Bereich eine nachvollziehbare, belastbare Verhältnismäßigkeitsprüfung voraus, die nicht unrechtmäßig das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers verletzt. Dann gilt: Datenschutz ist kein Tatenschutz und auch Zufallsfunde können eine wirksame Kündigung rechtfertigen.

Kategorie: Ordentliche Verdachtskündigung, personenbedingte Kündigung, Abgrenzung zur Tatkündigung, § 626 BGB, wichtiger Grund, Auswirkungen des Zeitablaufs auf den Kündigungsgrund, Merkmal „dringend“, forensische Untersuchung eines Dienstrechners, DSGVO, Datenschutz und Kündigung, Sachvortragsverwertungsverbot, Zulässigkeit einer Anschlussrevision, Anforderungen an eine Revisionsbegründung, Betriebsrat, Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Betriebsvereinbarung, Freispruch, grobe Pflichtverletzung, Kennzeichnung, personenbezogene Daten, Zufallsfund

Autor: Dr. Joachim Holthausen

Veröffentlicht: 05.07.2019

Letzte Änderung: 05.07.2019